Electric Network Frequency Analysis 2.0

(Koautor: Yannick Meyer)

Einführung

Die Netzfrequenz wird üblicherweise für die Analyse von Netzzuständen im europäischen Verbundsystem verwendet. Wir haben bspw. zuletzt Effekte wie die Netzaufspaltung am 08.01.2021 oder die RESA des Kernkraftwerks Krško am 29.12.2020 analysiert. Die Netzfrequenz ist übersetzt die Herzlinie der größten Maschine der Welt. Wie sich der Herzschlag in jeder Zelle des Körpers beim Menschen messen lässt, kann er auch im Verbundsystem in jeder Zelle festgestellt werden, sei es an der Leitung, an einem Erzeuger oder einem Verbraucher. Denn alle mit dem Netz verbundenen Geräte, Anlagen und Maschinen funktionieren nur, weil sie exakt im gleichen Takt wie das Netz laufen (müssen).

Genau diese Eigenschaft lässt es aber zu, die Netzfrequenz als ein Maß der Verortung von Ereignissen zu verwenden. Denn wie der menschliche Puls nicht perfekt ist, ist auch die Netzfrequenz nicht perfekt. Es ergeben sich einmalige Muster, wenn man die Frequenz über die Zeit betrachtet. Und diese Muster wiederholen sich nicht, zumindest nicht in kurz aufeinanderfolgenden Abständen.

Diese Einzigartigkeit der Netzfrequenz wird in der Electric Network Frequency Analysis (ENF Analyse) verwendet, um Ereignisse zeitlich einzuordnen. Bspw. wird ein solches Muster bei jeder Audio- oder Videoaufnahme mitaufgezeichnet, wenn in der Umgebung der Aufnahme ein aktiver Stromverbraucher zu finden ist. Das kann eine eingeschaltete Lampe sein, das Netzteil oder andere Schall emittierende Verbraucher. Aufgrund der Tiefe der Frequenz und der geringen Lautstärke nehmen wir dieses Phänomen allerdings nicht mit dem menschlichen Ohr wahr. Mikrofone hingegen können, je nach Bauart, die Fundamentalfrequenz oder eine ihrer Oberwellen um 100 oder 200 Hz aufzeichnen. Dieses so aufgezeichnete Netzbrummen kann für die zeitliche Einordnung der auszuwertenden Aufnahme verwendet werden, insofern eine unabhängige Aufzeichnung der Netzfrequenz, mit hinreichend hoher Genauigkeit und zeitlicher Akkuratesse vorliegt.

Das Gridradar-Monitoring-System bietet diese Möglichkeit. Denn alle Messstationen des Gridradar-Systems sind zeitlich durch einen Global Navigation Satellite System-Empfänger (GNSS-Empfänger) synchronisiert. Dadurch ist die Uhrzeit über alle Messstationen auf wenige Mikrosekunden identisch. Ohne entsprechendes GNSS-Tracking, also bspw. mithilfe des NTP-Internetprotokolls, kann die Frequenzentwicklung in Europa nicht eindeutig über unterschiedliche Messstationen hinweg verglichen werden. Der zeitliche Versatz wird durch folgende Abbildung deutlich: Zeitversatz

Die Abbildung zeigt eine Versuchsreihe, bei der die Übereinstimmung des aus Aufnahmen isolierten Netzbrummens mit der von Gridradar gemessenen Frequenz verglichen wurde. Für jede Aufzeichnung wurde die mitgemessene NTP-Zeit mit der per GNSS übermittelten UTC-Zeit verglichen. Die Abbildung zeigt, dass ein zeitlicher Versatz der Messungen zwischen sieben und 13 Sekunden festgestellt wurde, wobei der Versatz zwischen den Tagen der Aufzeichnungen schwankte. Bspw. war der Versatz am 06. Dezember geringer als am 14. Dezember.

Es stellte sich auch heraus, dass bei einer Nachjustierung der NTP-Zeit eine sehr hohe Übereinstimmung zur Netzfrequenz erzielt werden kann. Zu beachten ist, dass die Nachjustierung auf Sekunden- und nicht auf Millisekundenwerte erfolgte. Es wurde bei dem Experiment auch eine Drift der NTP-Zeit festgestellt. Diese Drift wirkt sich wiederum auf die Korrelation zwischen der Audioaufnahme und der Netzfrequenz aus.

ENF-Analysen von Audiodateien in einem Feldexperiment

Im zweiten Halbjahr 2020 wurden unterschiedliche Untersuchungen zur Bestimmung des Aufnahmezeitraums von Test-Audiodateien durchgeführt. Zunächst wurde dazu die Netzfrequenz bzw. eine Oberwelle aus einer Audiodatei isoliert. Dies erfolgt durch eine sogenannte Fourier-Transformation. Das relevante Frequenzband wird damit aus dem gesamten Frequenzspektrum einer Aufnahme herausgefiltert. Mithilfe sogenannter Kreuzkorrelationen zwischen der isolierten Frequenz und der Netzfrequenz kann dann geprüft werden, wann eine Aufnahme aufgezeichnet wurde. Dazu wird der „Frequenzschnipsel“ der Audiodatei über die Netzfrequenz „geschoben“. Zu jedem Vergleichszeitpunkt wird der Korrelationskoeffizient des Frequenzschnipsels der Aufnahme mit der Netzfrequenz gebildet. Die folgende Abbildung zeigt die Ergebnisse eines Vergleichs über zehn Tage jeweils zum letzten Zeitpunkt der Vergleichsperiode. Kreuzkorrelation Folgende Erkenntnisse konnten so erzielt werden:

  1. Es zeigen sich typische Muster über den Tag hinsichtlich der Korrelation zwischen der Frequenz der Audiodatei und der Netzfrequenz. Die Korrelation ist immer im gleichen Zeitraum am höchsten.
  2. Das Zeitfenster mit der höchsten Übereinstimmung ist jeden Tag fast immer identisch mit dem tatsächlichen Aufnahme-Zeitfenster.
  3. Die mit Abstand höchste Korrelation ergibt sich zum tatsächlichen Aufnahme-Zeitfenster.

Wer setzt die ENF Analyse bereits ein?

Die ENF Analyse wird in der Forensik eingesetzt, um bspw. den Zeitraum der Entstehung eines Mitschnitts durch Polizei- oder Untersuchungsbehörden zu identifizieren. Daher verwenden kriminaltechnische Behörden ENF Analysen, wenn bspw. das Zeitfenster und die Kontinuität einer Aufnahme identifiziert werden muss, also ob eine Aufnahme (zusammen-)geschnitten wurde.

Aber auch in der journalistischen Recherche werden ENF Analysen eingesetzt, um die Aufzeichnung von zugespielten Informantenvideos oder -audios auf ihre Echtheit, Aufnahmezeitpunkt und Kontinuität hin prüfen zu können.

Für wen ist die ENF Analyse noch interessant?

Die ENF Analyse wird v.a. bei der zeitlichen Identifikation von Audioaufzeichnungen eingesetzt, wenn es um die Prüfung der Echtheit von Tonaufnahmen geht. Gerade im Kontext sogenannter Deep Fakes werden Audioaufnahmen oder Videoaufnahmen „künstlich“ erzeugt. Die ENF Analyse ist ein probates und einfaches Mittel, die Echtheit von Aufzeichnungen zu untersuchen. Damit hätte bspw. leicht herausgefunden werden können, dass Frau Pelosi nicht betrunken war (Link zum Youtube-Video). Denn dieses Videos wurde einfach verlangsamt abgespielt um einen falschen Eindruck zu erzeugen. Hier wäre eine Diskrepanz zwischen dem Netzbrummen der Aufnahme und unabhängiger Netzfrequenzaufzeichnung aufgefallen.

Die ENF Technik kann aber auch in umgekehrter Richtung für die Festlegung eines eindeutigen Zeitstempels genutzt werden. Daher können bspw. Audio- oder Videodateien gezielt mithilfe der Frequenz zeitlich signiert werden. Dies ist dann relevant, wenn eine Abfolge von Aktionen belegt werden muss, wie etwa bei kurzfristigen Börsen-Handelsgeschäften.

Selbstverständlich eröffnet sich dann aber auch die Möglichkeit des Einsatzes im versicherungstechnischen Kontext, wenn Schadenshergänge zeitlich einzuordnen sind. Auch lassen sich dem Versicherer vorgelegte Beweise auf eventuelle Diskontinuitäten prüfen, also ob das Beweismaterial durch gezielte Schnitte gekürzt oder anderweitig verfälscht wurde.

Was macht Gridradar?

Bislang wird die ENF-Technologie v.a. als Ad-hoc Methode eingesetzt. Dies erfordert umfangreiche Voraussetzungen wie bspw. die Vorab-Eingrenzung des Zeitraums einer Aufnahme, die Beschaffung der Netzfrequenz und die genaue Untersuchung inkl. Programmierung des notwendigen Analyseprogramms. Daher wird die Methode nur sehr begrenzt genutzt.

Gridradar bietet eine automatisierte Anwendung der ENF-Technologie, wodurch kurzfristig eine gute Indikation zur zeitlichen Verortung einer Audio- oder einer Video-Aufnahme ermöglicht werden kann.

Vorgehen Gridradar

Durch die Standardisierung und Automatisierung des Prozesses können Ergebnisse bereits innerhalb kurzer Zeit bereitgestellt werden.

Gridradar denkt einen Schritt weiter

In den Aufzeichnungen der Netzfrequenz sind gewisse regionale Muster erkennbar. Beispielsweise bewirkt das Vorhandensein großer Schwungmassen, wie zum Beispiel ein Turbosatz eines thermischen Kraftwerks regionale Dämpfungseffekte. Diese regionalen Abweichungen sind in der Frequenz nur schwach verzeichnet, beeinflussen jedoch die Streuung der aufgezeichneten Frequenz an einem Standort. (Globaler Durchschnitt – regionale Sreuung?)

Das im UCTE-Gebiet verteilte Messsystem von Gridradar ermöglicht es, diese Streuungen innerhalb einer Aufnahme regional einzuordnen. So kann mittels der ENF-Analyse eine Aufnahme nicht nur zeitlich eingeordnet werden und auf Kontinuität geprüft werden, sondern auch mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit verortet werden.