UCTE-Netzfrequenz sinkt am 08.01.2021 um 14:05 Uhr (CET) unter 49,75 Hz
Am 08.01.21 sank die Netzfrequenz um 14:05:07 Uhr (CET) auf unter 49,75 Hz. Ein solcher Frequenzabfall im europäischen Verbundnetz ist absolut außergewöhnlich! Bis 14:04:54 Uhr bewegte sich die Netzfrequenz über rund drei Minuten bei etwa 50,02 bis 50,03 Hz. Innerhalb von 13 Sekunden fiel sie dann um fast 270 mHz ab, teilw. unter 49,75 Hz. Die ENTSO-E, der Verband der Europäischen Übertragungsnetzbetreiber, hat eine Systemaufspaltung zwischen 14:05 Uhr und 15:08 gemeldet.
Kraftwerksausfall oder Handelsartefakt?
Ein solch rasanter Abfall lässt sich nicht durch den Ausfall eines Kraftwerks allein erklären. Unwahrscheinlich ist auch, dass Handelsartefakte zu dem rasanten Frequenzabfall geführt haben. Dazu liegt der Zeitpunkt des Frequenzeinbruchs zu weit vom Stundenbruch entfernt.
Lokalisation des Ursprungs der Störung
Betrachtet man den Verlauf des Abfalls über die europäischen Messstationen hinweg, liegt der Ausgangspunkt des Frequenzabfalls in Südosteuropa (s. nächste Abbildung). Zunächst hat unsere Messstation in Sibiu einen Frequenzeinbruch registriert. Wie zwischenzeitlich bestätigt wurde, ist der kurzfristige Wegfall der Messdaten der Station mit einem Stromausfall im Nordwesten Rumäniens zu erklären. Der Frequenzeinbruch wurde dann in Ljubljana, Wien, Prag und Dresden und zuletzt in Belfort in Westfrankreich mit abnehmender Stärke registriert. Dies zeigt die Steigung der Kurven direkt nach dem ersten Frequenzabriss. Da alle Messstationen die gleiche Frequenzbewegung auch in der Phase nach dem Auseinanderfallen des Netzes aufgezeichnet haben, muss die Netzauftrennung weiter südöstlich passiert sein.
Analyse des Phasenwinkels über die Störung hinweg
Bestätigt wird dies auch durch eine Analyse der Phasenwinkeldifferenzen. Die Analyse der Phasenwinkeldifferenz ermöglicht Rückschlüsse auf Leistungsverschiebungen zwischen Punkten im Netz. Mittelfristig gibt dies Hinweise auf Ein- und Ausspeiseregionen bzw. Flüsse im Netz. Kurzfristig erlaubt die Analyse der Phasenwinkeldifferenz bei der Identifizierung von plötzlichen Leistungsfluktuationen. Folgende Abbildung zeigt den Verlauf der Phasenwinkeldifferenz mit Belfort als Referenz für den Zeitraum der Systemaufspaltung: Klar zu erkennen ist die Aufteilung des Netzes gegen 14:04 Uhr. Deutlich sichtbar sind auch die regionalen Folgen. Je weiter eine Messstation im Südosten Europas gelegen ist, umso stärker ist die (negative) Abweichung im Vergleich zum Ausgangszeitpunkt, gleichermaßen ist auch der Rücklauf zu erkennen.
Am 26.01.2021 hat die ENTSO-E die Ergebnisse ihrer Analyse des Vorfalls veröffentlicht. Demnach kam es zu einer Überlastung einer Sammelschienenkupplung in einem Umspannwerk in Ernestinovo in Kroatien. Durch eine Schutzauslösung um 14:04:26 Uhr wurden die beiden verbundenen Sammelschienen getrennt. Anschließend setzte eine Kaskade von Folgeeffekten ein. Denn die Lastflüsse durch das Umspannwerk in Ernestinovo mussten sich über andere Leitungen und Umspannwerke verteilen. Aufgrund der plötzlichen Veränderungen an weiteren Stationen kam es zu weiteren Auftrennungen in benachbarten Umspannwerken westlich und östlich von Ernestinovo, was schließlich die Aufspaltung des Netzes entsprechend der durch die ENTSO-E veröffentlichten Abbildung zur Folge hatte:
Abbildung entnommen aus der ENTSO-E-Veröffentlichung.
Die Wieder-Zusammenschaltung um 15:07:32 Uhr hat sich i.W. nur bei der Messstation in Prag kurzfristig ausgewirkt. Dass es auch anschließend noch Irritationen bei den Kraftwerken in der Großregion gab, belegen die Phasenwinkelsprünge. Alle anderen Messstationen, inklusive der in Sibiu, zeigen die kontinuierliche Synchronisation.
Diese Abbildung zeigt idealtypisch, wie sich ein Auseinanderbrechen und anschließendes Zusammenschalten bzgl. der Leistung im Netz auswirkt: Zunächst kommt es zu einer massiven Leistungsveränderung zwischen Erzeugungsregionen und Verbrauchsregionen. Verbrauchsregionen fehlt schlagartig die notwendige Leistung. Erzeugungsregionen haben einen Leistungsüberschuss. Anschließend greifen die Schutzmechanismen von Kraftwerken und Großverbrauchern. Die Anlagen werden schlagartig vom Netz getrennt (s. Frequenzabfall in der obigen Graphik).
Die Übertragungsnetzbetreiber koordinieren dann die Zusammenführung, indem überregional Leistungen angeglichen und stabilisiert werden. Der französische und der italienische Übertragungsnetzbetreiber RTE und Terna haben 1300 MW bzw. 1000 MW an Verbrauchern vom Netz genommen. Die Zusammenschaltung wirkt sich hingegen massiv dort aus, wo besonders viel Leistung zur Verfügung gestellt wurde. Denn diese müsste optimalerweise zeitgleich mit der Zusammenschaltung getrennt werden. Dies ist allerdings aufgrund des Nachlaufs der Schwungmassen nicht perfekt möglich.
Schauen wir uns den Beginn des Auseinanderbrechens genauer an, lassen sich weitere Rückschlüsse auf den Ursprung des Ereignisses identifizieren: Ab 14:04:18 Uhr schaukelte sich zunächst die Messstation in Sibiu auf. Um 14:04:49 Uhr kam es dann zu einem fast gleichzeitigen Leistungseinbruch in Ljubljana, Wien, Prag und Dresden. Die Region im nordwestlichen Rumänien hat vermutlich das resultierende Leistungsungleichgewicht zunächst aufgenommen, konnte es allerdings wohl nicht absorbieren. Daher kam es zu dem Sprung gegen 14:05:16 Uhr. Die Unterbrechung der Messdaten ist durch Unterspannung in der Region um Sibiu in Nordwest-Rumänien zu erklären.
Besonders auffällig ist die Geschwindigkeit, mit der sich der Frequenzabfall vollzogen hat. Dass die Ursachen nicht durch dieses Ereignis begründet werden können, sondern systemseitig zu suchen sind, zeigt auch die Geschwindigkeit des Frequenzabfalls und die Stärke des Effekts bei der RESA des KKWs Krsko am 29.12.2020 in Folge eines Erdbebens. Offenbar sind wohl gerade zu wenige Kraftwerke am Netz um Momentanreserve in ausreichendem Maße bereitstellen zu können.
Unter Momentanreserve versteht man die kontinuierlich am Netz befindlichen Schwungmassen wie bspw. die Turbosätze von Großkraftwerken. Diese fangen normalerweise abrupte Änderungen der Frequenz auf. Mittlerweile wissen wir, dass die Netzaufspaltung am 08.01.2021 auch verbrauchsseitig in Westeuropa nicht folgenlos blieb.
So wurde uns berichtet, dass der Frequenzsprung zu Schutzabschaltungen von laufenden Anlagen und damit zu Produktionsunterbrechungen geführt hat. Offenbar kam es in jüngerer Vergangenheit öfters zu solchen Unregelmäßigkeiten, die bislang allerdings nicht mit Netzereignissen in Verbindung gebracht wurden.
Dass es allerdings vermehrt zu größeren Frequenzsprüngen über 100 mHz im Winterhalbjahr kommt, zeigen bereits unsere Langfristanalysen und unsere Frequenzabweichungs-Notifikation – mit 100-mHz-Abweichung seit Anfang Januar 2021 beinahe täglich. Darauf deuten auch Äußerungen des französischen Übertragungsnetzbetreibers RTE hin. RTE forderte aktuell die französischen Verbraucher zur Reduktion ihres Energieverbrauchs auf.
Ähnlich wie fast genau vor zwei Jahren führt die Wintersituation zu einer kontinuierlich hohen Belastung des Energiesystems. Am 10. Januar 2019 hat daher ein vergleichsweise unscheinbares Ereignis ebenfalls zu einem massiven Frequenzabfall unter 49,8 Hz geführt. Der reduzierte industrielle Energiebedarf aufgrund von Corona hat die Situation weiter angespannt. Denn im vergangenen Jahr wurden umfassend Kraftwerkskapazitäten europaweit vom Netz genommen.
Diese in mehrfacherweise herausfordernde Situation hat das kontinentaleuropäische Verbundsystem an den Rand des Blackouts gebracht. Wie auf der nachfolgenden Grafik zu erkennen ist, wurde in Deutschland im Nachgang zu dem Unterfrequenzereignis von 14:00 bis 16:00 über 750 MW negative Sekundärreglelleistung eingesetzt, wie auch ca. 250 MW positive Minutenregelleistung (MRL) angefordert um die Frequenz wieder in den Reglertotbereich von 50 Hz +/- 10 mHz zurückzuführen.
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Stand 27.01.2021 1100 Uhr