Prognoseabweichung und starker Stromexport führten zu n-1 Verletzungen

Ein regnerisches Wochenende läutete am 20. Mai 2019 einen besonders verregneten Start in die Woche ein. Es ging kaum Wind und auch die Sonne ließ sich nicht blicken. Somit also äußerst ungünstige Bedingungen für die Stromerzeugung durch Erneuerbare. Von knapp 220 GW in Deutschland installierter Erzeugungsleistung waren, laut ENTSO-E, zwischen 06:00 Uhr und 15:00 Uhr rund 26 GW nicht verfügbar, darauf entfielen 0,8 GW Wind. Gründe für die Nichtverfügbarkeiten waren u.a. Revisionen, so war unter anderem auch der grösste deutsche Pumpspeicher Goldisthal zu diesem Zeitpunkt nicht verfügbar

Nach Berichten mehrerer Schweizer Zeitungen und einer Bestätigung der Swissgrid stand die Schweiz an diesem Vormittag kurz vor einem Blackout durch Verletzung der n-1 Sicherheit.

n-1 Regel kurz erklärt

Die n-1 Regel ist eine Sicherheitsregel für den Betrieb des Stromnetzes. Diese Sicherheitsregel besagt, dass bei der durch den Netzbetreiber prognostizierten maximalen Höchstlast die Netzsicherheit auch dann gewährt bleiben muss, wenn eine Netzkomponente ausfällt. So wird z.B. ein Umspannwerk oder Kraftwerk immer über zwei Leitungen (z.B. eine Ringleitung) versorgt. Fällt eine Komponente im Netz aus, also zum Beispiel eine Seite der Ringanspeisung, oder z.B. ein Transformator in einem Umspannwerk, darf es weder zu einer Unterbrechung der Versorgung kommen, noch zu einer Ausweitung der Störung durch einen Kaskadeneffekt.

Hier eine Veranschaulichung des Kaskadeneffekts, nach Auftrennen der Leitung zwischen 14 und 16: Kaskadeneffekt.gif Quelle: netzsin.us

Um den Netzfahrplan für den Folgetag festzulegen, wird ein Rechenmodell herangezogen. Es wird also unter anderem auf Basis von Erfahrungswerten, Wetterbedingungen und planbaren Grossereignissen eine Höchstlast im Netz prognostiziert für den Folgetag und dann die Netztopologie entsprechend festgelegt. Im Bei massiven Abweichungen von dieser Höchstlastprognose, z.B. durch unvorhersehbare Großereignisse, kann es zu n-1 Verletzungen kommen.

Hintergrund des Beinahe-Blackouts

Aber zurück zur Schweiz: Ausgangspunkt der kritischen Situation war eine massive Abweichung der Lastflüsse zwischen der Schweiz und Deutschland von den Fahrplänen. Nach Veröffentlichungen der Transnet BW stieg die Differenz zu den Prognosen ab ca. 06:45 Uhr sprunghaft an und erreichte in der Spitze zwischen 10:45 und 11:00 Uhr 1780 MW. Diese Leistung entspricht ca. 1,5 Atomkraftwerken. Über den hier betrachteten Zeitraum von 06:00 Uhr bis 15:00 Uhr liegt die Abweichung mit durchschnittlich 1145 MW knapp 75 Prozent über der mittleren Abweichung der ersten vier Mai-Wochen.

Lastfluesse_Swissgrid_Transnet_BW.png (Daten: Transnet BW)

Ausschlag war jedoch nicht der realisierte deutsche Verbrauch. Dieser wich nicht ungewöhnlich von der Verbrauchsprognose ab, und auch die innerdeutsche Erzeugung lag laut smard.de nur knapp unterm deutschen Verbrauch. Es fehlen netzseitig zwischen der Schweiz und Deutschland aktuell ca. 300 MW der Net Transfer Capacity (also der für den Handel verfügbaren Netzkapazität zwischen den Ländern). Dies ist bedingt durch das Fehlen eines Trafos (-200 MW) wie auch die reduzierte Kapazität einer Leitung (-100 MW). Diese fehlenden 300 MW haben aber vermutlich keinen Einfluss auf die außergewöhnliche Situation zwischen der Schweiz und Deutschland gehabt.

Wie die Swissgrid in ihrer Pressemitteilung berichtet, ist die Abweichung vom Fahrplan insbesondere auf den Handel zurückzuführen. In der Tat zeigt sich ein aussergewöhnlich starker Preisanstieg im deutschen Day-Ahead-Handel von knapp 36 EUR/MWh auf über 63 EUR/MWh zwischen 06:00 Uhr und 08:00 Uhr. Während dieser Preisanstieg im Vorfeld bekannt war, hat v.a. der Preisanstieg im Intraday-Handel überrascht. Zwischen 06:00 Uhr und 09:30 Uhr stieg der Preis von knapp über 30 EUR/MWh auf über 79 EUR/MWh. Der Anstieg im Schweizer Intraday von 36,50 EUR/MWh auf 60 EUR/MWh (epexspot.com) war demgegenüber wesentlich schwächer. Dieser Preisvorteil im schweizer Intraday gegenüber dem deutschen Intraday könnte letztlich den starken Fluss aus der Schweiz nach Deutschland verursacht haben.

Intraday_Durchschnittspreis_smard.png

Die Netzsituation

Eine solche regional begrenzte Ausnahmesituation hat üblicherweise keinen Einfluss auf die Frequenz des Stromnetzes. Wichtig zu wissen: die Frequenz ist im Stromnetz das Maß für ein Leistungsgleich- bzw. ungleichgewicht. Daher wird für die Analyse der außergewöhnlichen Situation im Folgenden der Phasenwinkel zwischen Messstationen um die Schweiz, als Funktion der Frequenz, herangezogen. Die Differenz zwischen den Phasenwinkeln zweier Messstationen ermöglicht Hinweise auf die Lastunterschiede zwischen den jeweiligen Regionen der Messstationen. Um Niveaueinflüsse ausschliessen zu können, wird im Folgenden die Phasenwinkeldifferenz zwischen zwei Messstationen gebildet und die Phasenwinkel zum ersten Betrachtungszeitpunkt auf 0 normiert.

Folgende Abbildung zeigt die normierte Phasenwinkeldifferenz zwischen Rottenburg (Süddeutschland) und Boretto (Norditalien). Üblicherweise ist eine positive Differenz zwischen den Messstationen zu beobachten. Dies bedeutet, dass die Last in Norditalien ist höher als die Last in Süddeutschland, damit ergibt sich ein Lastfluss von Deutschland nach Italien (großteils durch die Schweiz). Die Grafik zeigt für den Betrachtungszeitraum eine umgekehrte Situation. Um etwa 06:45 Uhr sinkt die Phasenwinkeldifferenz schlagartig ab und bleibt dann bis ca. 08:00 Uhr auf diesem Niveau. Anschließend sehen wir ein weiteres, längerfristiges Abgleiten des Phasenwinkels über mehrere Stunden (!). Dies ist eine absolut aussergewöhnliche Situation, da die Phasenwinkeldifferenz üblicherweise schwankt. Die Sprünge bspw. um 08:00 Uhr, um 11:00 Uhr und um 13:00 Uhr deuten auf Handelsgeschäfte hin.

Phasenwinkel_Rottenburg-Boretto.png

Die Messstation in Rottenburg (Baden-Württemberg) ist vergleichsweise nahe an der Schweizer Grenze gelegen. Auch weiter entfernte deutsche Messstationen zeigen den beobachteten Effekt in der Phasenwinkeldifferenz mit abgeschwächter Ausprägung. Das langfristige Abgleiten der Phasenwinkeldifferenz wird allerdings durch alle deutschen Messstationen bestätigt.

Vergleicht man nur die deutschen Messstationen, zeigt sich ebenfalls ein kontinuierliches Abgleiten von der Messstation in der Nähe des Braunkohlereviers im Westen zu allen anderen deutschen Messstationen über die Zeit und zwar umso stärker, je weiter die Messstationen von der Referenzmessstation entfernt sind. Dies deutet darauf hin, dass v.a. die drei großen Kraftwerke im Westen Deutschlands zur Stabilisierung der Situation beigetragen haben.

Phasenwinkel_Herzogenrath-Boretto.png

Bildet man die Phasenwinkeldifferenz dieser Messstation zur Messstation in Boretto, zeigt sich, dass die drei westdeutschen Braunkohlekraftwerke in der Region v.a. in den frühen Morgenstunden sehr stark eingespeist haben. Dies deutet darauf hin, dass die Erzeugung der Kraftwerke der Preisentwicklung an der Börse folgen. In der Phase zwischen 08:30 Uhr und 09:00 Uhr, also die mit der grössten Abweichung im Lastfluss wurde relativ weniger Leistung bereitgestellt. Ab 09:00 Uhr, also zum höchsten Intraday-Preis, wurde allerdings wiederum massiv mehr erzeugt. Der Sprung um 10:00 Uhr und die Gegenbewegung vor 11:00 Uhr zeigen die Durchführung eines Redispatch der Kraftwerke Niederaussem und Neurath.

Erkenntnisse aus der Betrachtung

Generell bleibt festzuhalten, dass ein solcher Vorfall gerade in Zeiten mit wenig Erneuerbaren-Erzeugern im System nicht (mehr) ungewöhnlich ist. In seiner Stärke – und damit verbunden in seinem potenziellen Risiko für das Gesamtsystem – ist ein solcher Vorfall allerdings schwer zu prognostizieren. Durch die Prognoseabweichung in Verbindung mit dem starken Exportfluss kam es in der Schweiz zu n-1 Verletzungen. Diese stellen eine Verletzung der Netzsicherheit dar und können zu einem Blackout führen, da dann die Netzstabilität nicht mehr gewährleistet ist. Die in letzter Zeit veröffentlichten Kurzfrist- und Langfristanalysen der Netzfrequenz und der Phasenwinkeldifferenz zwischen unseren europaweit verteilten Messstationen zeigen, dass Sondersituation und grössere Abweichungen von der Normalsituation gerade dann auftreten, wenn die Erneuerbaren im System fehlen. Mit wenigen Erneuerbaren im System wirkt sich das Verhalten von Handelsakteuren offensichtlich besonders stark auf die Netzstabilität aus.

Echtzeitinformationen, wie von Gridradar bereitgestellt, können zwar kurzfristig von Netzstörungen betroffene Industrieunternehmen oder Dienstleister vorwarnen. Um solche Effekte wie dieser Beinahe-Blackout mitten im europäischen Verbundsystem allerdings generell zu verhindern, ist es dringend notwendig, das europäische Gesamtsystem wieder stärker im Blick zu haben. Kurzfristige politische Befindlichkeiten mit langfristigen Konsequenzen sollten möglichst keinen Einfluss auf die erfolgreiche länderübergreifende Kooperation der Übertragungsnetzbetreiber haben dürfen. Daher ist aus unserer Sicht dem Hinweis der Swissgrid dringend zu folgen, dass die Schweiz wieder stärker in die Lastflussberechnungen der Nachbarländer einzubeziehen ist.

Stand 10.06.2019