Durchsacken der UCTE-Netzfrequenz auf 49,84 HZ

Am 28.03.2023 ab 16:00 Uhr (UTC) hat das Gridradar Messnetz ein starkes und langanhaltendes Unterfrequenzereignis im UCTE-Netzgebiet aufgezeichnet. Hierbei traten mehrere ungewöhnliche Phänomene auf:

Hintergrund

In letzter Zeit beobachten wir häufiger das Verlassen der +/- 100 mHz-Region um 50 Hz herum. Dies ist zum Teil sicherlich auf die Umstellung vom Winter- auf den Sommerfahrplan zurückzuführen. Die Abweichungen unterscheiden sich allerdings von dem, was wir in den vergangenen Jahren beobachten konnten. Während in der Vergangenheit starke und kurze Frequenzabweichungen um Stundenbrüche oder Viertelstundenbrüche beobachtet werden konnten, treten mittlerweile gehäuft länger anhaltende Frequenzabweichungen über 100 mHz über mehrere Minuten bis zu Stunden auf.

Die Situation am 28.03.2023

Am 28.03.2023 konnte wieder eine solche Situation beobachtet werden. Dieses Mal überrascht allerdings die Stärke der Abweichung und die Dauer der Abweichung über 100 mHz. Im Falle einer Unterfrequenz fehlt Erzeugungsleistung im Netz. Die Frequenz sinkt dann je nach Erzeugungsunterschuss und verfügbarer Momentanreserve schneller oder langsamer ab. Um die Frequenz wieder in das Reglertotband von 50 Hz +/- 10 mHz zu heben, ist der Einsatz von Primär- und insbesondere Sekundärregelleistung (FCR und aFRR) nötig.

Frequenzverlauf des Unterfrequenzereignisses am 28.03.2023 um 1656 Uhr (UTC) Abbildung 1: Verlauf der Netzfrequenz

Wie Abbildung 1 zeigt, kam es im Betrachtungszeitraum zwischen 16:00 Uhr und 18:15 Uhr (UTC) zu einer Abweichung auf unter 49,84 Hz um ca. 16:56 Uhr (UTC). Dabei ist die Länge der Unterfrequenz mit wenigen Ausnahmen von knapp zwei Stunden zwischen 16:20 Uhr und 18:10 Uhr (UTC) auffallend. Der zwischenzeitliche Frequenzanstieg auf über 50 Hz um kurz nach 17:00 Uhr ist vermutlich allein auf die aktivierte aFRR in Folge des vorausgehenden Ereignisses mit dem Frequenzabfall auf 49,84 Hz zu erklären. Denn sobald das Maximum um 17:07 Uhr (UTC) erreicht ist, fällt die Frequenz wieder relativ schnell unter das Reglertotband. Das deutet darauf hin, dass die abgerufene aFRR wieder deaktiviert wurde. Die lange Dauer der Frequenzrestauration auf über 49,90 Hz hinein bis gegen 18:10 Uhr ist vermutlich auf einen Mangel an vermarkteten Kraftwerken im Gesamtsystem zurückzuführen. Bilanzkreisverantwortliche sind dazu verpflichtet, spätestens zum Stundenwechsel, in den meisten Ländern bereits zum Viertelstundenwechsel, fehlende Leistungen im Portfolio durch einen Zukauf über den Spotmarkt zu ersetzen. Offensichtlich ist dies hier nicht oder nicht ausreichend geschehen.

Betrachtet man insbesondere das Zeitfenster zwischen 17:07 Uhr und 17:43 Uhr, wird ein weiteres Problem sichtbar: In diesem Zeitraum von fast einer halben Stunde gab es zwei Viertelstundenwechsel. Gemäß Marktregeln hätte die Vorlaufzeit zweimal ausgereicht, um Fehlmengen über den Intraday zu beschaffen. Merkwürdig ist aber auch, dass bis 17:43 Uhr wiederum keine aFRR in ausreichendem Umfang aktiviert wurde. Zwar stabilisiert offenbar die Regelleistungsaktivierung in der Viertelstunde zwischen 17:15 Uhr und 17:30 Uhr die Netzfrequenz um 49,95 Hz. Allerdings schwingt sie danach wieder stärker und bewegt sich erst nach 17:50 Uhr wieder nach oben. Aus Regelungssicht kann es für diese Beobachtung mehrere Ursachen geben, worüber wir hier nur spekulieren können. Mehrere Ereignisse könnten bspw. die Unterfrequenz bedingt haben. Daher könnte es zu einer Fehleinschätzung des erwarteten Leistungsdefizits in der oder den entsprechenden Regelzonen gekommen sein oder die Regelung zweier LFC-Regler haben sich gegenseitig beeinflusst.

Regionale Betrachtung

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Ausgangsland der Situation. Transparency ENTSO-E erlaubt leider keine Rückschlüsse: Im Betrachtungszeitraum sind weder große ungeplante Leitungsausfälle noch große ungeplante Kraftwerksausfälle veröffentlicht. Lediglich eine ungeplante Leistungsreduktion zwischen Portugal und Spanien ist angezeigt. Nähere Analysen der Netzfrequenz in Spanien lassen keine wesentlichen Effekte auf die Netzfrequenz im Gesamtsystem in diesem Zeitraum erkennen.

Regionaler Frequenzvergleich des 49,84 Hz Ereignisses am 28.02.2023 Abbildung 2: Regionaler Frequenzvergleich

Betrachtet man die Netzfrequenz an unterschiedlichen Standorten im Netz (Abbildung 2), zeigt sich eine sehr hohe Überdeckung der jeweils gemessenen Frequenzverläufe -- selbst um den Tiefpunkt. Dies deutet darauf hin, dass offensichtlich insgesamt sehr wenig Störungen netzbedingt im Zentrum des kontinentaleuropäischen Synchrongebiets vorlagen. Lediglich an den Rändern, in Malaga oder auf Kreta kam es zu größeren Schwankungen. Dies entspricht aber dem üblichen Frequenzverhalten in Europa.

Phasenwinkeldifferenz am 28.03.2023 während und nach dem Erreichen der 49.84 Hz Referenz. Die Spreizung des Phasenwinkels zeigt das folgende Leistungsungleichgewicht der Reaktion auf das Ereignis Abbildung 3: Verlauf der normierten Phasenwinkeldifferenzen

Mehr Information bietet die Betrachtung der normierten Phasenwinkeldifferenzen. Diese sind in Abbildung 3 aufsteigend sortiert mit Leszno in Polen als Referenzmessstation.

Erläuterung der Phasenwinkeldifferenz: Die Phasenwinkeldifferenz ermöglicht bei exakter Zeitsynchronisation der Messungen einen Rückschluss auf die Leistungsdifferenz an zwei Punkten im Netz. Für diesen Zweck sind die verwendeten Messgeräte GNSS-zeitsynchronisiert. Je größer die Phasenwinkeldifferenz ist, desto größer ist die Leistungsdifferenz zwischen den beiden Orten. Aus Stationaritätsgründen betrachten wir nicht die Leistungsdifferenz an sich, sondern deren Veränderung bezogen auf den Anfangszeitpunkt jeder Ortsreihe.

Die Störung und das damit einhergehende Leistungsungleichgewicht wird im Phasenwinkel sichtbar. Lagen die Phasenwinkeldifferenzen bis ca. 16:57 Uhr, also ca. 2 Minuten nach dem Tiefpunkt, recht dicht beieinander, so laufen sie anschließend auseinander. Bei genauerer Betrachtung fällt das West-Ost-Gefälle zwischen den Messstationen sowohl vor als auch nach dem Frequenztiefpunkt auf. Dies deutet darauf hin, dass die Nettoleistung im östlichen Netzgebiet schon ab 16:00 Uhr niedriger war als in Westeuropa. Nach dem Frequenzereignis kam es zu einer massiven aFRR-Aktivierung, wodurch die Frequenz wieder anstieg. Allerdings zeigt sich, dass die zusätzliche Leistung v.a. aus Westeuropa, vermutlich Frankreich, kam. Denn dort steigt die Phasenwinkeldifferenz am schnellsten und auch dauerhaft bis um 18:00 Uhr an. Wie schon bei der Netzaufspaltung am 08.01.2021 übernahm auch hier wieder Frankreich vermutlich die führende Rolle zur Systemstabilisierung.

Die Situation in Deutschland

Wie hat Deutschland das System gestützt? Wir haben dazu die sekündlich veröffentlichte Netzfrequenz der ÜNB sowie den sekündlich veröffentlichten aFRR-Sollwert betrachtet.

Erläuterung aFRR-Sollwert: Die aufgezeichnete Netzfrequenz und der aFRR-Sollwert werden auf netztransparenz.de durch die deutschen ÜNB am Folgetag bereitgestellt. Der aFRR-Sollwert stellt die seitens der LFC-Regler sekündlich als notwendig erachtete Aktivierungsmenge an aFRR dar. Signifikante Anpassungen des Wertes finden allerdings nur im 4-Sekunden-Intervall statt (vgl. Hirth & Mühlenpfodt, 2021). Bei der Verwendung beider Datenreihen ist zu beachten, dass die veröffentlichten Daten um vier Stunden verschoben sind. Der Frequenztiefpunkt findet sich daher fälschlicherweise um 20:55 Uhr (UTC) in den Daten. Der aFRR-Sollwert wird auf Basis des deutschen Area Correction Errors (ACE) bestimmt. Gemäß ENTSO-E Operation Handbook, Policy 1 berücksichtigt der ACE sowohl die nationale Leistungsabweichung als auch die (kontinentaleuropäische) Netzfrequenz. Gemäß System Operation Guideline sind Übertragungsnetzbetreiber zur Leistungs-Frequenz-Regelung ihrer Regelzone verpflichtet. Daher bietet der aFRR-Sollwert im Vergleich mit der gemessenen Frequenz einen Hinweis darauf, ob die Ursache einer Frequenzabweichung innerhalb Deutschlands zu suchen ist oder außerhalb Deutschlands.

Von ÜNB gemessene Netzfrequenz vs. SRL-Sollwertvorgabe in Deutschland Abbildung 4: Frequenzverlauf und aFRR-Sollwert veröffentlicht auf netztransparenz.de

Abbildung 4 vergleicht die beiden (zeitlich korrigierten) Reihen der Netzfrequenz und des aFRR-Sollwerts. Im Wesentlichen steht der Sollwert der identifizierten Frequenzabweichung entgegen. Erwartbare Abweichungen ergeben sich lediglich in der Nähe des Reglertotbands. Um 16:56 Uhr ist der (positive) aFRR-Sollwert allerdings relativ niedrig. Dies deutet darauf hin, dass die Ursache des Frequenzabfalls nicht in Deutschland zu suchen sein sollte. Die Phase nach 17:07 Uhr lässt allerdings zumindest eine Beteiligung der Abweichungsursache innerhalb Deutschlands vermuten. Denn ab ca. 17:30 Uhr steigt der Sollwert von unter 500 MW auf über 1200 MW.

Während der aFRR-Sollwert ein sekündlicher Indikator für die zu aktivierende aFRR-Leistung darstellt, zeigt Abbildung 5 die tatsächlich aktivierte aFRR im Betrachtungszeitraum.

Die von deutschen ÜNB gemessene Netzfrequenz gegenüber dem aFRR Abruf in Deutschland Abbildung 5: Aktivierte deutsche aFRR

Bis 16:15 Uhr stützt die deutsche aFRR das System. In der anschließenden Viertelstunde sinkt die Frequenz dann massiv aus dem Reglertotband, während Deutschland immernoch knapp 385 MW negativ aktiviert hat. Dieses Phänomen des Regelns gegen das System ist leider nicht ungewöhnlich. Wir werden dazu demnächst einen weiteren Beitrag veröffentlichen, in dem wir dieses Problem systematisch analysieren.

In den folgenden Viertelstunden sehen wir dann wieder, wie die deutsche Regelleistung der Frequenzabweichung entgegenwirkt. Wie bereits bei der Analyse des aFRR-Sollwerts zeigt sich auch bei der tatsächlich aktivierten Regelleistung, dass dem starken Frequenzabfall vor 17:00 Uhr mit geringerem deutschen Regelleistungseinsatz begegnet wird. Die lange Unterfrequenzphase nach 17:00 Uhr führt allerdings zu höherem aFRR-Abruf bis zu den äußerst selten abgerufenen knapp 1000 MW positive aFRR in der Viertelstunde ab 17:45 Uhr. Letztlich hat dieser Leistungshub im deutschen Regelblock gepaart mit dem 18:00 Uhr Stundenbruch das System wieder in den Sollbereich zurückführen können.

Zusammenfassung

Es bleibt festzuhalten, dass der außergewöhnliche Frequenzverlauf am 28.03.2023 vermutlich auf mehrere Ursachen zurückzuführen ist. Der starke Frequenzabfall bis auf 49,84 Hz hat seinen Ursprung vermutlich außerhalb Deutschlands. Die lange Unterfrequenzphase nach 17:00 Uhr ist hingegen durch mehr als ein Ereignis zu erklären, wobei diese Unterfrequenz zumindest teilweise in Deutschland verursacht worden sein muss.

Stand: 31.03.2023 22:00 Uhr