Don't stop a running interconnector
Am 08. Juni 2023, um 10:39 Uhr (UTC), kam es zu einer unerwarteten Auftrennung des 2021 ans Netz gegangenen North Sea Link (NSL) Interkonnektors. Dieser 1400 MW single circuit-Interkonnektor verbindet mit einer Länge von 720 km die beiden Synchrongebiete UKTSOA auf der britischen Hauptinsel und Nordic. Zum Zeitpunkt der Auftrennung wurden 1290 MW aus Skandinavien nach Großbritannien transportiert. Dies entspricht etwa der Leistung eines Blocks im ehemaligen deutschen Kernkraft Gundremmingen.
Konsequenzen des Splits
Die Auftrennung führte zu einer schlagartigen Frequenzänderung in beiden Synchrongebieten, wie Abbildung 1 zeigt. In Skandinavien kam es zu einem positiven Frequenzsprung von knapp 0,4 Hz. In Großbritannien sprang die Frequenz sogar um 0,5 Hz.
Abbildung 1: Vergleich Frequenzverlauf Nordics und UKTSOA
Zoomt man in den Bereich des Frequenzsprungs, zeigen sich zwei wesentliche Effekte (Abbildung 2): In der Region vor dem Interkonnektor kam es zu einem zweistufigen Anstieg in der Frequenz. Je näher man am Interkonnektor misst, desto stärker ist die Welle (vgl. Aas in Norwegen und Stockholm in Schweden). Dies deutet darauf hin, dass der Fluss über den Interkonnektor aufgrund der Störung um 10:38:52 Uhr unterbrochen wurde, aber ein möglicher Rückfluss entstand.
Abbildung 2: Detaillierte Betrachtung Frequenzverlauf
Interessanter ist die Auswirkung auf der Rückseite des Interkonnektors: Manchester und Stratchclyde, die Standorte der nächsten Gridradar-Messstationen liegen annähernd äquidistant von Blyth, dem britischen Anladungspunkt der NSL, entfernt. In Strathclyde ist schon mit dem ersten Dursacken um 10:38:52 die Frequenzabsenkung zu beobachten. Dieses Absacken stabilisiert sich kurzzeitig, bevor die Frequenz dann in Stratchclyde vollends einbricht. In Manchester hingegen hat sich die erste Unterbrechung überhaupt nicht in der Frequenz ausgewirkt. Dieses massive Auseinanderdriften im britischen Synchrongebiet ist bemerkenswert. Denn die Frequenz weißt hier kurzfristig auf eine Distanz von rund 330 km einen Unterschied von rund 130 mHz auf.
Die Region um Manchester ist traditionell stark industriell geprägt. Offenbar haben die nachfrageseitigen Schwungmassen und konventionellen Kraftwerke der Region als Momentanreserve gewirkt und den ersten Frequenzabfall abgebremst. Dies hat sich sowohl im britischen Synchrongebiet aber auch im skandinavischen Synchrongebiet abmildernd auf die Netzfrequenz ausgewirkt. Womöglich ist dies auch der Grund für den zweistufigen Einbruch der Frequenz. Denn das zweite Ereignis findet kurz nach dem Absacken in der Region um Manchester seinen Niederschlag sowohl im Frequenzverlauf von Strathclyde als auch m Frequenzverlauf von Aas.
Als die Schwungmassen das System nicht mehr hinreichend stabilisieren konnten, ist die Frequenz im britischen Synchrongebiet weiter durchgesackt. Diese Beobachtung deutet auf die inhärente Bedeutung der Region Manchester für die Stabilität des britischen Synchrongebiets hin.
Betrachtung der Phasenwinkeldifferenz
Die Phasenwinkeldifferenz ermöglicht einen Vergleich der Nettoeinspeisung zwischen zwei unterschiedlichen Punkten in einem Netz. Ist diese Differenz negativ, so herrscht vereinfacht ausgedrückt ein Stromfluss vom ersten zum zweiten Messpunkt und umgekehrt. Abbildung 3 vergleicht die Stromflüsse im skandinavischen und im britischen Synchrongebiet.
Abbildung 3: Verlauf der Phasenwinkeldifferenzen
Die gelbe Kurve zeigt den Stromfluss zwischen Stockholm und Aas in der Nähe von Oslo. Der skandinavische Anlandungspunkt vom NSL, Kvilldal, liegt in der westlichen Verlängerung dieser beiden Messpunkte.
Wir sehen zunächst ein gleichbleibendes Verhältnis der Messungen zwischen Stockholm und Aas. Durch die Auftrennung des Interkonnektors kommt es dann zu einem nahezu vertikalen Sprung der Phasenwinkeldifferenz. Dies liegt darin begründet, dass mit dem Auftreten des Leitungsausfalls wesentlich mehr Energie im System nahe des Interkonnektors vorhanden ist als in Regionen weiter entfernt vom Interkonnektor. In der Folge der Netztrennung reduziert sich dann die überschüssige Energie im Netz durch entsprechende Gegenmaßnahmen. In allen Gebotszonen des Synchrongebiets wurde in der entsprechenden Zeit negative aFRR im Umfang von insgesamt 328,3 MW und in der Folgestunde nochmal 199,9 MW aktiviert.
Die Unterdeckung als Folge der fehlenden Importleistung zeichnet aber ein sehr divergentes Bild:
Erwartungsgemäß sollte in Großbritannien die Auftrennung des Interkonnektors (beim Import) zu einer Reaktion der Winkeldifferenz in die Gegenrichtung zum skandinavischen System führen. Um diesen Vorgang im britischen Netz zu analysieren, nutzen wir die Phasenwinkeldifferenz von Strathclyde und Manchester zu London. Durch den Wegfall der importierten Leistung von 1290 MW kommt es zu einer Unterdeckung an Leistung im britischen System. Als Folge sinkt einerseits in der Region um Strathclyde die Phasenwinkeldifferenz zu London schlagartig. Andererseits steigt sie in der Region um Manchester sprunghaft an. Manchester und sein Umland bilden ein Zentrum der britischen Industrie. Es steht zu vermuten, dass der Vektorsprung bzw. die Unterfrequenz nahe 49,6 Hz als Folge der Auftrennung des Interkonnektors zu einem automatisierten Lastabwurf in dieser Region geführt hat.
Auffällig ist auch, dass die Frequenz im britischen System um ca. 500 mHz fiel, jedoch das skandinavische System einen etwas geringeren Sprung von „nur“ 400 Mhz zeigte. Dies spricht für eine geringere Netzanlaufzeit des britischen Systems, verglichen mit dem skandinavischen Verbundnetz.
Abbildung 4: Detaillierte Ansicht der Phasenwinkeldifferenzen
Dies zeigt auch Abbildung 4, wenn man näher in den Bereich um das Ereignis hineinzoomt: Die Phasenwinkeldifferenzen in Aas und in Strathclyde zeigen den typischen starken Ausschlag nach einem Netzsplit (vgl. bspw. die Abspaltung von Spanien 2021). Anschließend folgt die klassische kurze Gegenbewegung und dann eine Phase der Quasi-Stationarität auf dem neuen Niveau. In Manchester hingegen sieht man ein gleichmäßiges Ansteigen der Phasenwinkeldifferenz, was auf ein gesteuertes Entgegenwirken in Reaktion auf den Leistungsabfall hindeutet.