Chancen für Flexibilitäten im Bereich Systemstabilisierung
Aktuell eröffnen sich Potenziale für neue Marktakteure wie Batterie-Vermarkter und Aggregatoren von Flexibilitäten. ÜNBs wollen diese Kapazitäten zur Systemstabilisierung nutzen und schaffen neue Produkte. Darüber hinaus engagieren sich neue Akteure aber auch im Bereich der Systemstabilisierung, indem sie ihre hohe Anpassungsgeschwindigkeit in Verbindung mit ausgeklügelten KI-Modellen ausnutzen. Im Folgenden werden der Status quo und die Potenziale der drei großen europäischen Synchrongebiete für solche neuen Marktakteure in Sachen Systemstabilität verglichen.
Hintergrund
Aktuell treten neue Marktakteure wie Batterie-Vermarkter und Aggregatoren von Flexibilitäten vermehrt an Gridradar heran. Aufgrund ihrer hohen Anpassungsfähigkeit ist für sie weniger wichtig, in welchen Markt sie gehen. Vielmehr suchen sie die größten Marktchancen für ihre KI-gestützten Geschäftsmodelle. Damit ergeben sich aber auch Chancen für Übertragungsnetzbetreiber (ÜNBs). Denn die hochflexiblen Erzeugungs-, Speicher- und Verbrauchstechnologien können wesentlich schneller auf Systemschwankungen reagieren als bisherige Technologien. Für die Ausnutzung dieser neuen Technologien müssen ÜNBs nun die richtigen Weichen stellen und ihren Flexibilitätsbedarf in entsprechende Produkte gießen.
Im Folgenden soll zunächst die Systemstabilität zwischen Kontinentaleuropa, Großbritannien und Skandinavien verglichen werden. Anschließend wird auf den Status quo in Sachen flexible Systemdienstleistung eingegangen und schließlich wird das weitere Potenzial diskutiert.
Überblick: Systemstabilität über die Zeit
Für ein besseres Verständnis der Unterschiede hinsichtlich der Systemstabilität sollen zunächst die drei Synchrongebiete Kontinentaleuropa, Großbritannien und Skandinavien auf Basis von Frequenzdaten für das erste Halbjahr 2024 einander gegenübergestellt werden. Abbildung 1 zeigt die wöchentliche Anzahl an Abweichungen von der 50Hz-Sollfrequenz je Synchrongebiet gruppiert in Abweichungen von 100 bis 150 mHz, von 150 bis 200 mHz und über 200 mHz als Maß der Systemstabilität.
Abbildung 1: Häufigkeit Frequenzabweichungen je Synchrongebiet
Auffällig ist die signifikant unterschiedliche Verteilung von Frequenzschwankungen: Gibt es in Kontinentaleuropa nur geringe Abweichungen, sind es in Skandinavien über 330 und in Großbritannien sogar über 550 Abweichungen bis zu 150 mHz (blaue Balken). Ähnlich unterschiedlich treten größere Abweichungen auf. In Großbritannien sind Abweichungen über 150 mHz um den Faktor 6,6 höher als im skandinavischen Synchrongebiet (gelbe und graue Balken). Dieser einfache Vergleich zeigt, wie bedeutsam Netzlast, Produktionsmix und Verteilung für die Systemstabilität sind. Denn Großbritannien mit dem kleinsten der drei Netze schwankt in allen Frequenzbereichen wesentlich stärker als Skandinavien und Kontinentaleuropa.
Dass diese Schwankungen für flexible Anbieter unterschiedliches Potenzial für einen Business Case darstellen können, zeigt die Auflösung der Frequenz über den Tag (Abbildung 2).
Abbildung 2: Häufigkeit von Frequenzabweichungen über den Tag
Während sich die Abweichungen in Kontinentaleuropa auf einzelne Tagesstunden recht klar in positive und negative Abweichungen verteilen, kommen größere Frequenzabweichungen in beide Richtungen in Skandinavien und Großbritannien in jeder Viertelstunde vor. Tageszeitliche Trends in Skandinavien zeigen die durchgezogenen Linien mit tendenziell stärkeren Abweichungen in negative Richtung in den Morgenstunden und am Nachmittag. In Großbritannien häufen sich positive und negative Abweichungen in den Morgen- und frühen Abendstunden.
Dauer von Abweichungen
Neben Häufigkeit und Prognostizierbarkeit ist für Flexibilitätsanbieter die Dauer des Abrufs von zentraler Bedeutung. Denn Batterien müssen bspw. im Rahmen von systemdienlichem Verhalten aufgenommene Energie wieder abgegeben können, um anschließend erneut für Systemdienstleistungen zur Verfügung zu stehen. Wichtig ist daher, wie lange ein Lade- oder Entladezyklus dauert, d.h. wie lange Systemabweichungen im Mittel sind.
Abbildung 3: Dauer von Frequenzabweichungen
Abbildung 3 vergleicht die Dauer von Abweichungen als Zeitraum von der Frequenzabweichung bis zur Rückkehr zu 50 Hz. Auffällig sind die signifikant länger andauernden Abweichungen in Großbritannien zwischen 100 und 150 mHz. In Kontinentaleuropa und in Skandinavien sind Abweichungen hingegen wesentlich kürzer und in ihrer Dauer unabhängig von der Abweichung annähernd gleich über die Zeit. Dies bedeutet, dass Batterien für die schnelle Frequenzstützung in Großbritannien sowohl hinsichtlich der Leistungs- als auch der Speicherkapazität größer dimensioniert werden sollten als bspw. in Kontinentaleuropa.
Produkte der Systemdienstleistung
In der Vergangenheit wurden Systemdienstleistungen so entwickelt, dass sie die netzspezifischen Schwankungen optimal abbilden können. Daher werden Systemdienstleistungen wie FCR, aFRR, mFRR und RR bspw. hinsichtlich der erforderlichen Verfügbarkeitsdauer und Trägheit in der Bereitstellung unterschieden. Als trägere Systemdienstleistung löst aFRR FCR ab, mFRR aFRR und RR mFRR. Die erforderlichen Abrufdauern orientieren sich trotz europäischer Vereinheitlichung und Integration in vielen Regelzonen aktuell immernoch an der Verfügbarkeit und Fähigkeiten konventioneller Erzeuger.
Gerade die sinkende Rentabilität konventioneller Erzeuger in Zeiten des Erneuerbaren-Ausbaus wirkt sich nun doppelt auf die Systemstabilität aus: Einerseits führt deren Rückbau zu fehlenden physischen Schwungmassen, die bislang ein Garant der Systemstabilität bilden. Andererseits müssen nun neue Systemstabilisierungsprodukte so entwickelt werden, dass diese neue Formen von Schwankungsmustern der Frequenz mit steileren Flanken und größeren Abweichungen ausgleichen können. Zudem müssen die Produkte insbesondere auch aus neuen Flexibilitäten mit schnellerer aber kürzerer Verfügbarkeit bereitgestellt werden können.
Großbritannien beanreizt bspw. bereits seit 2016 kurzfristig verfügbare Kapazitäten. Hierfür wurden über die Zeit Flexibilitätsprodukte für die sich ändernde Netzsituation kontinuierlich weiterentwickelt und angepasst. Im November 2024 startet ein weiterer Markt, sogenannte Quick Reserve. Die Konsultationsphase für mehrere neue dynamic services wurde Ende Juli 2024 abgeschlossen. Die Produkte werden 2025 eingeführt.
Skandinavien und Kontinentaleuropa setzen zur Systemstabilisierung stärker auf die Einbindung der Verbrauchsseite. Allerdings müssen auch dafür die Anforderungen und Produkte der Systemdienstleistung angepasst werden.
Learnings aus dem Vergleich
Der Vergleich über die drei Synchrongebiete zeigt das technische Potenzial und gibt Hinweise auf das Potenzial für neue Marktakteure bei Systemdienstleistungen. Regelmäßige Anpassungen von Frequency Response-Produkten in Großbritannien zeigen den bereits jetzt notwendigen systemseitigen Bedarf und die hohe Marktvolatilität gerade im kurzfristigen Bedarf aufgrund reduzierter Schwungmassen. Aber auch die stärkere Einbindung der Verbrauchsseite in Skandinavien deutet auf wachsenden systemdienlichen Flexibilisierungsbedarf hin, was v.a. Aggregatoren neue Marktchancen bietet. In den großen Ländern Kontinentaleuropas hingegen könnte in Zeiten des Rückbaus konventioneller Erzeuger das Potenzial neuer Technologien stärker genutzt werden.
- Die Analyse zeigt, dass gerade Großbritannien, gefolgt von Skandinavien, besonderes Potenzial für Anbieter von flexiblen Kapazitäten aufgrund der Vielzahl großer Frequenzschwankungen bietet. Für Batterien ergeben sich hieraus unterschiedliche Optionen als Standalone-Lösung oder auch zur Pufferung im Sinne einer Systemstützung von weniger flexiblen Erzeugern oder Verbrauchern.
- Batterien werden aufgrund ihrer Anpassungsflexibilität der Fahrweise als besonders geeignet erachtet, synthetische Schwungmasse bereitzustellen. In Großbritannien aber auch in Skandinavien existieren bereits entsprechende Produkte.
- Im Sinne einer Systementlastung können Flexibilitäten länger andauernde Frequenzabweichungen nutzen, um sich systemdienlich zu verhalten und so mit dem Ausgleichsenergiepreis Erlöse zu erzielen, sogenanntes „NIV chasing“. Aufgrund der Forderung nach Bilanzkreistreue ist aktives NIV chasing in Deutschland allerdings anders als bspw. in Großbritannien oder den Niederlanden nicht erlaubt.
Fazit
Für Aggregatoren und Batterienvermarkter ergeben sich durch aktuelle Anpassungen der Regelleistungs-/-energiemärkte neue Business Cases in Großbritannien, aber auch in Skandinavien und absehbar in Kontinentaleuropa. Denn wir sehen, dass sich Frequenzschwankungen im Zuge des Rückbaus großer Schwungmassen ändern.
Gridradar hat sich zum Ziel gesetzt, für Aggregatoren und Batterienvermarkter die richtigen Informationen zum richtigen Zeitpunkt bereitzustellen. Wir haben daher unsere Produktpalette in Sachen kurzfristigem Forecast im Bereich Netzstabilität, Regelleistungsabruf und Alerts ausgebaut. Wir entwickeln aber auch mit unseren Kunden Optimierungskomplettlösungen für Batterien, neue Flexibilitäten wie Gewächshäuser oder für verteilte Serverfarmen.
Auch wenn dies aktuell in Kontinentaleuropa noch von geringerer Bedeutung ist, sollten ÜNBs den Blick in Richtung Großbritannien und Skandinavien richten. Denn Batterien und neue Flexibilitäten bieten Chancen bei der Systemstabilisierung. Damit solche Anbieter in den Markt kommen, müssen aber auch die passenden Produkte vorhanden sein. Großbritannien hat bereits seit 2016 den Markt für Batterien bereitet. Stand Juni 2024 gab es in Großbritannien installierte Batterien am Netz im Umfang von 4,6 GW/5,9 GWh (Solar Media Market Research, 2024). In Deutschland ist etwa das 2,5- bis dreifache Potenzial verfügbar. Deutsche ÜNBs und die BNetzA sollten aufgrund des forcierten Erneuerbaren-Ausbaus daher überlegen, wie dieses Potenzial durch entsprechende Produkte stärker für die kurzfristige Systemstabilisierung eingebunden werden kann.
(Picture: Schwerin 20140923 wemag2.jpg, author: Enyavar, CC BY-SA 4.0)